Lokal leben

Lokal leben

Mit einem Mal war unsere Welt ganz klein. Die Fernreise genauso unerreichbar wie die Ostsee. Kein Treffen zum Lunch, Leute gucken nachmittags im Café, abends zusammen schick essen gehen und dann Bar-Hopping. Selber kochen, spazierengehen und Netflix bestimmen in der Pandemie unsere Freizeit. Unser Horizont ist eng geworden. Doch auch im Kleinen vor Ort offenbart sich ein Universum.

Das Jahr 2008 war der Wendepunkt, an dem erstmals in der Geschichte mehr Menschen in Städten als auf dem Land lebten. Im Jahr 2030 wird es 5 Milliarden Städter*innen geben. Schon jetzt gibt es gewaltige Metropolregionen, deren Durchquerung eine Tagesreise bedeutet. Die größte deutsche Stadt, Berlin, ist gemessen an den Megastädten Asiens, Afrikas und Südamerikas vergleichsweise klein und taucht erst auf Platz 114 der weltweiten Großstädte auf.
Trotzdem sind auch kleine Metropolen zu groß für das Sozialgefüge, auf das der Mensch seit Jahrtausenden eingestellt ist. Die Entwicklung verlief schlichtweg zu rasant. Die chinesische Stadt Shenzen hatte im Jahr 1979 gerade einmal 30.000 Einwohner*innen, heute sind es 12,5 Millionen.
Wenn die Orte, an denen wir leben nun zu groß geworden sind, um sie in ihrer Gesamtheit zu erfassen, dann können wir nur einen Teil davon zu unserem eigenen machen. In den Megastädten Asiens haben die Menschen häufig ihr Leben so organisiert, dass sie fast alle ihrer Alltagsbesorgungen in einem Radius erledigen können, der dem eines Dorfes entspricht. Die Einschränkungen während der Corona-Pandemie haben gezeigt, dass wir weder zum Arbeiten, Einkaufen oder Essen das Haus verlassen müssen. Umso mehr Wert gewinnt der unmittelbare Nahbereich für uns. Wir alle wohnen irgendwo. Aber leben wir auch dort? Selbstverständlich bewegen wir uns in unseren Städten unter normalen Umständen wie die Fische im Wasser, von einem Quartier ins nächste. Doch so weitläufig und gewandt unsere Wege durch den urbanen Raum auch sein mögen; am häufigsten legen wir doch immer die Wegstrecke vor der eigenen Haustür zurück. Allein das ist ein guter Grund, dem Flecken Erde um sich herum und den Menschen, die mit uns darauf leben, ein wenig mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Lokal wirtschaften

Jeder Cent, den wir in unserem Viertel ausgeben, stärkt dort mittel- und langfristig die Infrastruktur und in der Konsequenz möglicherweise auch unser eigenes Arbeiten. Er trägt dazu bei, dass ein Ladengeschäft oder ein*e Dienstleister*in mehr Rückhalt hat, um nicht von der Preisschraube einiger rücksichtsloser Vermieter*innen geknackt zu werden und genug Reserven aufbauen zu können, um nötigenfalls auszuweichen statt aufzugeben. Doch zu viele haben schon zugemacht. Sie zurück zu gewinnen ist schwierig aber nicht unmöglich. Will man beispielsweise wieder eine*n Uhrmacher*in im Quartier haben, muss man selbst solange irgendwo als Kundin zu einer*m gehen, bis unter den Uhrmacher*innen das Wort die Runde macht, dass es sich wieder lohnt, einen eigenen Laden zu eröffnen. Das funktioniert erwiesenermaßen. Leider nur meist nur unter Spielhallen und Imbissbuden, die in unseren Städten die Lücken füllen, die Bäckereien, Haushaltswarengeschäfte, Boutiquen oder Buchläden hinterlassen haben.
Natürlich ist der Supermarkt im Viertel nicht inhaber*innengeführt, sondern gehört zu einem großen Konzern, der vermutlich nicht einmal in der eigenen Stadt die Gewerbesteuer zahlt. Aber auch im Discounter arbeiten Menschen. Jeder Cent, den wir lokal ausgeben, macht dort auch einen Arbeitsplatz möglich. Gerade in körperlich anstrengenden Jobs mit langen Arbeitszeiten oder im Schichtbetrieb ist eine Stelle in der Nähe der eigenen Wohnung ein nicht zu unterschätzender Wert. Die kommunalen Wirtschaftspolitiken der vergangenen Jahrzehnte haben dazu geführt, dass große Dienstleistungs-, Handels- und Produktionsbetriebe geballt am Stadtrand angesiedelt wurden. Das schaffte zwar Arbeitsplätze und Gewerbesteuereinnahmen für die Stadt insgesamt, führte jedoch gleichzeitig dazu, dass nun nicht nur die auswärtigen Beschäftigten langwierig zur Arbeit pendeln müssen, sondern auch die Stadtbewohner*innen. Wenn aber die Menschen nicht mehr dort arbeiten können, wo sie wohnen, bleiben die zurück, die nur noch dort wohnen, aber nicht arbeiten. Ohne soziale Durchmischung mit ihrer Kaufkraft und ihren vielfältigen Konsumbedarfen setzt sich jedoch eine unaufhaltsame Abwärtsspirale der sozialen und wirtschaftlichen Verödung in Gang.  Mittlerweile haben dies auch die Stadtplaner*innen erkannt und beginnen Wohnen und Gewerbe wieder zusammen zu denken. Die buchstäblich in Beton gegossenen Strukturen künftig aufzubrechen ist mühsam, wird aber schneller gehen, wenn wir ihnen mit lokalem Konsum dabei helfen.

Lokal handeln

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“, lautet nicht nur Immanuel Kants Kategorischer Imperativ, sondern auch die Goldene Regel für gutes Zusammenleben im lokalen Gemeinschaftswesen. Dieses Prinzip hat noch nie irgendwo hundertprozentig funktioniert, doch jedes Mal, wenn es jemand anwendet, macht es etwas besser.

Beginnen könnte man damit, jeden Tag ein Stück Abfall im öffentlichen Raum aufzusammeln und zu entsorgen. Das klingt banal, ist aber geradezu revolutionär und so ungewöhnlich, dass es sich komisch anfühlt. Gleichzeitig ist es ein starkes öffentliches Statement, das alle beschämt, die es nicht nachahmen. Hierzulande wirkt es zunächst unüblich, absurd ist es aber nicht. In Japan, wo sowohl das Gemeinwesen als auch Sauberkeit einen hohen Stellenwert genießen, engagieren sich viele Menschen regelmäßig bei der ehrenamtlichen Reinigung des öffentlichen Raums. Außerdem ist es danach fast unmöglich, selbst noch die kleinste Kippe einfach achtlos unter sich fallen zu lassen und damit von großem disziplinierendem Wert für uns selbst.

Rücksichtnahme ist in Städten unterentwickelt, obwohl sie gerade dort, wo viele Menschen auf kleinem Raum zusammenleben besonders angezeigt wäre. Von aggressiven Hupkonzerten im Straßenverkehr, kreuz und quer liegenden E-Scootern, Hundehaufen und Menschen, die am Ende von Rolltreppen stehenbleiben, um aufs Handy zu schauen, wollen wir hier gar nicht reden. Dass es rücksichtslose Menschen gibt, ist allgemein bekannt. Interessant ist vielmehr, wie wir uns selbst und andere rücksichtsvoller machen können. In einem ersten Schritt schreiben wir dazu über eine Woche Verhaltensweisen auf, die wir selbst als rücksichtslos empfunden haben. Dann steht auf der Liste beispielsweise

  • Haustür knallen
  • Einkaufswagen quer in den Gang stellen
  • Kartons nicht kleinreißen und so Papiertonne unnötig vollmachen
  • Fahrkartenautomat an der Straßenbahnhaltestelle blockieren
  • Nächtliche Abschieds-Unterhaltungen vor den Fenstern schlafender Menschen
  • Auf dem Radweg rumstehen

Mit dieser Liste kommen wir uns dann ziemlich spießig vor und behalten sie deshalb auch für uns. Doch ab jetzt vermeiden wir diese Dinge einfacher. Das fällt leicht, wenn sie einmal aktiv aufgefasst und niedergeschrieben wurden. Damit haben wir schon einen ganzen Schwung unbewusste Rücksichtslosigkeit ausgeräumt und können uns nun überlegen, wie wir bewusst aktiv rücksichtsvoll und uneigennützig sein können. Dieses Ansinnen hatten und haben überraschend viele unserer Nachbar*innen und so ist die Zahl an kleinen Nachbarschaftsinitiativen nach kurzer Recherche schon recht groß. Patin für den Bücherschrank, Laubsammlerin im Urban Gardening Projekt oder Handyspezialist*in im Repair Café – die Möglichkeiten sind so zahlreich wie vielfältig. Das solidarische Engagement eröffnet dabei die Möglichkeit, eigene Talente zu entdecken und neue Fähigkeiten zu erlernen. In jedem Fall ergeben sich neue soziale Beziehungen und eine gekräftigte Gemeinschaft vor Ort.
Natürlich besteht auch immer die Möglichkeit, sein eigenes Ding zu machen. Das ist vor allem für Menschen interessant, die nicht unbedingt zu einer neuen Gruppe dazu stoßen möchten und eine Aufgabe oder Funktion zugeordnet bekommen wollen, sondern sie sich lieber selbst suchen wollen. Dazu braucht es meist einige Kenntnisse um das Viertel und eine gute Vernetzung in der Nachbarschaft, um zu wissen, an welcher Stelle es sinnvoll ist anzusetzen.
Man kann aber auch einfach nur die Person sein, die in einem heißen Sommer den Baum vor dem Haus gießt. Alles ist erlaubt, wenn es der Umgebung und den Menschen, die um uns herum leben gut tut und uns zufrieden macht.



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