Wie Corona unsere Mode nachhaltig verändern kann

Wie Corona unsere Mode nachhaltig verändern kann

„Damit konnte niemand rechnen, sowas gab‘s noch nie“, ist nach dem Ausbruch der weltweiten Corona-Pandemie in den ersten Monaten 2020 allerorten zu hören, während die Abwehrmaßnahmen gegen das Virus unser Leben gehörig durcheinander wirbelten. Auch die Modebranche stürzt das Covid-19-Virus in eine tiefe Krise. In Europa und Asien werden reihenweise die Werkstore der Textilfabriken geschlossen. Entweder um eine weitere Ausbreitung des Virus unter den Beschäftigen zu verhindern oder weil die großen Modemarken ihre Läden schließen und Aufträge stornieren. Im Vergleich zum Vorjahr droht der Modeindustrie ein Viertel bis ein Drittel weniger Umsatz, ein Verlust von über 500 Milliarden Euro.

Dass mit der Pandemie niemand rechnen konnte stimmt. Dass es sowas noch nie gab, stimmt dagegen nicht. Es gibt nur nicht mehr viele Menschen, die zum Beispiel von den drei Wellen der Spanischen Grippe (1918-1920) oder der Weltwirtschaftskrise (ab 1929) und ihren Folgen für die Modewelt erzählen können. Trotzdem wissen wir, wie sich die Gesellschaften und ihr Modeverständnis in der Folge dieser Krisen veränderten. Vor diesem Hintergrund ist es unwahrscheinlich, dass die Yoga-Leggins als ein gegenwärtig beinahe zu allen Anlässen akzeptiertes Bekleidungsstück die Corona-Pandemie lange überdauern wird.

Leben im Jogginanzug?

Sein wir doch mal ehrlich: Die Zeit des Shutdowns haben die meisten von uns in großen Teilen im Jogginganzug oder anderen super-bequemen aber nicht öffentlichkeitstauglichen Klamotten verbracht. Auch das ist nicht neu. Gar nicht so lange her ist es, dass die Hausfrau im Alltag mit der schlichten aber praktischen Kittelschürze vorliebnahm und nur zum Verlassen des Hauses, Kleidsameres anlegte. Das sagt viel über die damals bestehende soziale Isolation von Frauen aus. Egal wie lange die Zeit von Home-Office und des pandemischen Zuhausebleibens noch dauern wird: Wir werden die Jogginghose leid werden. Schon während des Lockdowns blickten wir am dritten Tag in ihr kritisch an uns herunter und gedachten Karl Lagefelds Ausspruch, wer Jogginghose trage, habe die Kontrolle über sein Leben verloren. Nun, ein bisschen Kontrollverlust kann vorübergehend ganz angenehm sein. Ein Dauerzustand soll er nicht sein. Bequem darf es ruhig weiterhin sein, aber bitte auch ordentlich. Denkbar sind deshalb künftig zum Beispiel Wickelröcke, leichte Blusen oder weitgeschnittene und locker sitzende Hosen.

Die Mode wird langsamer

Leicht zu kombinierende Einzelstücke und eine Bewegung hin zum Minimalismus und einer variantenreichen Grundgarderobe waren schon vor der Pandemie angesagt. Allerdings bisher freiwillig. Wenn nun durch Jobverlust, Kurzarbeit und Auftragsrückgänge vielen Menschen das Geld in der Tasche fehlt, werden sich einige zweimal überlegen, ob sie jeden Saison-Trend mitgehen können. Mode, die nur wenige Monate angesagt ist und dann durch neue Designs ersetzt wird, könnte bald den Rückzug antreten. Schon jetzt gibt es Signale von der Spitze der Design-Szene, dass die Modemaschine auf weniger Umdrehungen herunterfahren und künftig häufiger zeitloser gestaltet werden wird. Auch in anderen Branchen, wie etwa der Luftfahrtindustrie war uns klar, dass das Wachstum von immer mehr und billiger nicht ewig so weitergehen würde. Ähnlich könnte es den Teilen der Bekleidungsindustrie gehen, die für den billigen Massen- und Wegwerfmarkt produzieren.

Natürliche Stoffe auf dem Vormarsch

In der Zeit vor dem ersten Weltkrieg und der späteren Spanischen Grippe wuschen die Menschen ihre Kleidung mit Ausnahme ihrer Unterwäsche deutlich seltener als wir es heute tun. Die Waschmaschine war zwar schon erfunden, aber kaum jemand besaß eine. In einer Zeit, in der viele Frauen in Rüstungsfabriken oder der Landwirtschaft eingesetzt waren, weil die meisten Männer an der Front kämpften, war es schlichtweg nicht mehr möglich ausladende Kleider mit sensiblen Details mit der Hand zu waschen. Schon bald wurde die Mode bescheidener mit robusteren Stoffen und Farben, die nicht so schnell verblichen.
Die Eindämmung der gegenwärtigen Corona-Pandemie verlangt von uns nicht nur Abstand, Maskentragen und häufiges Händewaschen, sondern auch das häufigere und heißere Waschen unserer Kleidung. Das legt die Vermutung nahe, dass wir künftig deutlich mehr Kleidung aus Baumwolle, Leinen, waschbarer Seide und Merino-Wolle sehen werden. Anspruchsvolle Applikationen, Besätze und Textilien wie Viskose oder Seide, die oft einer auf die Dauer kostspieligen Trockenreinigung bedürfen, werden vorerst in die zweite Reihe treten müssen.

Luxus ist verpönt

Schon jetzt geht über Stars und Influencern in den sozialen Medien ein Shitstorm nieder, wenn sie sich über die coronabedingte soziale Isolation in ihren Villen und Anwesen beklagen, während alle anderen Menschen zusätzlich noch in ihren Zwei-Zimmer-Wohnungen die Arbeit im Home-Office und die Kinderbetreuung bewältigen müssen. Ohnehin wendet sich das Interesse an Influencern und ihren lebensfernen Darstellungen von Accessoires und Fernreisen ab. Sie haben während der Pandemie nichts mehr mit der Lebensrealität „echter“ Menschen zu tun. Noch konnten durch staatliche Zuschüsse viele Arbeitsplätze erhalten werden. Doch mittelfristig werden auch hier viele Menschen ihren Job verlieren. Es ist offen, ob künftig Luxus und kostspieliger Lifestyle noch als erstrebenswert dargestellt werden, wenn gleichzeitig Millionen Menschen in erster Linie bemüht sind, nicht auf der Strecke zu bleiben. Während der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren galt selbst unter den Superreichen die Darstellung ihres Reichtums und extravagante Mode als schlechter Geschmack. Selbst in diesem Jahrtausend verschwanden in Zusammenhang mit der Finanzkrise 2008 Pelze und überladene Verzierungen vorübergehend aus der Mode. Es ist nicht Unwahrscheinlich, dass wir in den kommenden Kollektionen mehr schlichte Jeans, Etuikleider, T-Shirts, weite Hosen aus Baumwolle und Leinen vorfinden werden. Schon jetzt gibt es eine Grundstimmung unter nachhaltigen Influencern und einen Trend hin zum Minimalismus, der – wenn die Vermutung richtig ist – bald auch auf die Top-Influencer übergehen könnte.

Befreiung von der Sexiness

Mal ehrlich: Welche Frau hat sich im Ernst im Stringtanga, Minirock und High Heels zu Hause vor eine Videokonferenz gesetzt. Klar, der ausgeleierte Lieblingspulli musste noch schnell gegen eine anständige Bluse ersetzt werden und wenn noch Zeit war, gab’s auch noch etwas Farbe ins Gesicht. Es ist schwer vorstellbar, dass Frauen in Kleidung, die sie schön finden und in der sie sich wohlfühlen, effizient und kompetent digital arbeiten und dann aber später wieder in die unpraktischen Geschlechteruniformen der Vor-Corona-Zeit zurückkehren werden.

Das neue Trio: Anspruchslos, Reparieren, Second-Hand

Noch heute erzählen die Zeitzeuginnen der Zeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg von den herrlichen Kleidern, die ihre Mütter ihnen aus Fallschirmseide nähten. Während die meisten anderen Stoffe für militärische Uniformen verwendet wurden, regnete dieses feine Textil gelegentlich kostenlos vom Himmel und war entsprechend heiß begehrt. In den Elendsjahren nach dem Ersten Weltkrieg musste man noch auf alte Säcke zum Nähen und Ausbessern der eigenen Kleidung zurückgreifen. In den Vereinigten Staaten wurden deshalb während der Weltwirtschaftskrise sogar Mehlsäcke mit bunten Blumenmustern bedruckt, um sie später in Kleidung umarbeiten zu können. So schlimm wird es uns im Zusammenhang mit Corona wohl nicht ergehen. Ohnehin sind in unserer Welt der Plastikverpackungen Textilien zum Upcycling in taugliche Kleidung sehr selten. Vielmehr werden die Menschen wohl ihre alten Nähmaschinen wieder in Gang bringen, um ihre Kleidung teilweise wieder selber anzufertigen und auszubessern. Dass plötzlich alle Welt begann, einfache Mund-Nase-Bedeckungen aus alten Stoffresten zu nähen, war bereits ein Vorbote davon. Stricken und Häkeln sind ohnehin seit einiger Zeit schon wieder populärer geworden. Second-Hand-Mode ist ebenfalls schon seit Jahren im Aufwind. Gepaart mit den gewaltigen Möglichkeiten des durch Corona bis in die letzte Nische vorgedrungenen Online-Shoppings geht der Handel mit Kleidung aus zweiter Hand nun durch die Decke. Weil fast alle die Zeit des Corona-Lockdowns genutzt haben, um ihre Kleiderschränke auszumisten, ist genug Nachschub für die Second-Hand-Verkaufsplattformen da. So kann auch jede*r Einzelne von den Modetrends der Krise noch ein bisschen profitieren.

Mode nach Corona: Nachhaltiger, feministischer, gerechter

Selbstverständlich wurden viele Modetrends, die nach Krisen entstanden sind, später überholt oder gar in ihr Gegenteil verkehrt. Grundsätzlich gilt: In Zeiten besonderer Herausforderungen konzentriert sich unsere Art zu kleiden auf das Wesentliche und das, was uns wirklich wichtig ist. Wenn es stimmt, dass jede Krise auch eine Chance ist, dann haben wir jetzt die Gelegenheit, bedeutende Schritte zu unternehmen hin zu einer frauenfreundlichen Mode aus biologisch und nachhaltig produzierten Stoffen, die niederschwelliger gestaltet und so für mehr Menschen zugänglich ist.



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